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Lausitzer Rundschau, 5. September 2009
Ein Roman verleiht Flügel

In der RUNDSCHAU-Serie „Mit besten Empfehlungen“ schreiben Lausitzer Kultur-Akteure über künstlerische Werke, die sie begeistert haben. Der Cottbuser Grafiker Meinhard Bärmich berichtet, wie der Roman „Alexis Sorbas“ von Nikos Kazantzakis sein Verlassen der DDR (und seine Heimkehr) beflügelte.

Im Jahr 1970 bekam ich das Buch „Alexis Sorbas – Abenteuer auf Kreta“ in die Hände. Ich fing zu lesen an, vergaß den heißen Kaffee, überhörte das Telefongebimmel, das Vanilleeis schmolz auf dem Arbeitstisch.

Das 1946 veröffentlichte Meisterwerk von Nikos Kazantzakis ist ein philosophischer Entwicklungs- und Schelmenroman. Die Handlung dreht sich um die großen Themen Liebe, Frauen, Freundschaft, Leid und Leidenschaft, aber auch um die griechische Seele, kretische Lebensart, Gott und die Welt. Ein britischer von Selbstzweifeln geplagter Verstandesmensch erbt eine Kohlenmine auf Kreta und der griechische Lebenskünstler Alexis Sorbas hilft ihm bei deren Ausbau. Sorbas lebt nach dem Motto „Das Leben lieben und den Tod nicht fürchten“. Freiheit besteht für ihn darin, alle Erfolge und Niederlagen des Lebens zu akzeptieren und stets das Beste daraus zu machen. Die Suche nach Liebe und der Bau der Mine enden chaotisch . . . alles kracht zusammen.

Was bleibt, sind traurig-schöne Erinnerungen, der noch nicht angebrannte Hammel mit Rotwein und der klare Blick über das Meer. (Zitat: „Ein blaues Meer, . . . selbst die Masten der altersschwächsten Schiffe treiben Knospen und Weintrauben. Hier in Griechenland ist das Wunder die sichere Blüte der Notwendigkeit.“)

Ein Buch als Tröster

Nach der Lektüre wollte ich wissen: Gab es diesen Sorbas wirklich? Gern hätte ich mit ihm Wein getrunken. Ich wollte an diesen beschriebenen Ort Stavros auf Kreta. Wollte mir „ein Bild machen“. Doch um dahin zu gelangen, brauchte man damals in der DDR wirklich Flügel oder eine Aus-Reise-Geh-Nehmigung. So sah ich stattdessen den mit drei Oscars ausgezeichneten Film „Sorbas“ von 1964, bei dem Quinn tanzt diesen Syrtaki auf der Halbinsel Akrotiri (auf Kreta) in dem Ort Stavros, lacht und weint, breitet beim Tanzen die Arme zum Flug aus, ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. In wilder Leidenschaft spielt er auf der Santuri, alle Sorgen sind weg, alle Fragen der Welt in diesem Moment beantwortet.

Wie einen wertvollen Schatz speicherte ich die „Dreifaltigkeit“ von Roman, Film und Filmmusik bildhaft in mir ab und wusste: Das ist meine „kleine Bibel“ oder mein „tröstender Teddy“. Irgendwann klopften diese Bilder an meine Tür und führten mich zur Entscheidung: Ich fuhr mit den Freunden „A“ und „U“ in den Westen, um ganz offiziell eine Ausstellung „Theaterplakate aus der DDR“ zu besuchen. Dass ich dableiben würde, wussten sie nicht. Im Gepäck hatte ich das Sorbas-Buch und eine Kassette mit der legendären Sorbas-Filmmusik von Mikis Theodorakis. Dazu Kleidung für eine längere Reise und viel Leere im Kopf.

„Leg doch mal die Kassette ein“, sage ich zu „U“. Die Musik gibt mir einen Schub, mir wachsen innerlich Flügel, ich bin Sorbas! („ . . . dazu braucht es ein bisschen Verrücktheit, hörst du? Nämlich alles zu riskieren . . . der Verstand ist ein Krämer . . . schneidet die Leinen nicht ab . . .“)

Ich will nach Kreta, denke ich still, auch wenn wir vorerst in die falsche Richtung fahren. „U“ und „A“ schauen mich an und sagen: „Wir machen mal die Musik leiser.“ Vor der Passkontrolle in Marienborn beschwören sie mich: „Meinhard, antworte nur auf die Fragen oder sag' besser gar nichts, wenn dich der freundliche Grenzkontrolleur anschaut.“ Ich denke: „Au weia! Hoffentlich sieht man mir nicht an, was ich vorhabe.“ Dann heißt es: „Ausweis! Grund Ihrer Reise?“ „U“ und „A“ zeigen ihre Papiere. „Und Sie?“ – „Ich? Ich will nur Alexis Sorbas besuchen.“ – „Gute Reise! Danke.“

So schlimm war das doch gar nicht. Nun war ich hier (in der BRD), aber noch nicht dort (in Stavros), konnte mir nun im Westen Theaterplakate aus dem Osten anschauen. Ich war stolz auf uns Ost-Grafiker. Gutes Handwerk, gute Ideen, ehrliche Arbeit, dachte ich. Aber warum hängt hier kein Sorbas-Plakat?

Wendezeit

Es war 1989, bald kam die „Wende“! Sie tanzten auf der Mauer und hatten Flügel, ganz viele. Aber wo flogen sie denn hin?

(„ . . . hast du jemals erlebt, dass etwas so bildschön zusammenkracht . . . da musst du auch lachen . . . hast du gesehen wie sie alle gerannt sind . . . ja, besonders die Mönche . . . schon beim zweiten Mal, spätestens beim dritten Mal war nichts mehr da!“)

Ein Schritt zurück ist auch ein Schritt weiter.

Ich klappte meine Flügel ein, kam zurück, betrat zaghaft die „alte neue Heimat“. Die Richtung stimmte wieder, dachte ich, nun kann es ja nicht mehr weit bis Kreta sein.

Vom Staatstheater Cottbus erhielt ich den Plakatauftrag zum Thema „Sorbas – ein Musical“. So konnte ich endlich meinem Sorbas eine Form geben, es wurde ein tanzender Mensch mit Flügeln daraus. Die Idee der Kreta-Reise ließ mich nicht los.

Für das Staatstheater Cottbus gestaltete Meinhard Bärmich das Plakat zu „Sorbas – ein Musical“.

Im vergangenen Jahr ist es dann endlich soweit: Ich fliege mit meiner Familie dorthin. Mit einem Leihwagen fahren wir auf die Halbinsel Akrotiri. Hier muss es sein . . . Stavros noch drei Kilometer . . . flache Häuser, fünf Tavernen mit den Aufschriften „Sorbas-Bier“ und „Sorbas-Gyros“, eine malerische Badebucht und der schwarze Berg, fast wie im Film. Ob oberhalb des Berges auch der Eingang zur Kohlenmine ist?

Ich bin angekommen. Guten Tag, Sorbas.

Meine Frau öffnet ihr langes Haar, das sich mit Wind, Wellen und blauem Himmel zu einer Melodie verbindet. Mein Sohn schnorchelt im blauen Wasser und sucht Muscheln in der Filmkulissenbucht. Ich trete in einen Seeigel, will einfach nur sitzen, ziehe meine Schirmmütze ins Gesicht, zeichne meine Gedanken auf und blinzele in die Sonne. („Ich habe dir viel zu sagen, ich habe keinen Menschen wie dich geliebt, aber meine Zunge schafft es nicht. Ich werde dir also vortanzen.“)

Ein echter griechischer Kellner aus Dortmund bringt mir Raki mit Tomaten und Käse. Neben der Toilette hängt eine Wandtafel mit Sorbas-Film-Fotos. Auch der Parkplatz erinnert mit einem Schild an Sorbas.

Ein Raki auf Sorbas

Und 20 Japaner wissen eh Bescheid („Sorbas ist überall und kann jeder sein“) und fotografieren mich. Sie sind so schnell wieder weg, dass ich ihnen nicht mitteilen kann: „Wer es eilig hat, soll langsam gehen!“ Stattdessen trinke ich einen Raki auf Sorbas.

Abschied von Kreta: Unter uns der Flughafen „Nikos Kazantzakis“, die Stewardess wünscht einen guten Flug. Ich blättere im Reiseführer und erfahre: Den „Sirtaki-Tanz“ gab es gar nicht auf Kreta. Er wurde eigens für den Film von Hollywood erfunden.

Egal, ob nun Sirtaki oder Souvlaki oder Tsatsiki, es lebe Sorbas. Schön, dass wir uns kennengelernt haben.

Kreta - Filmkulissenberg in Stavros
Kreta - Filmkulissenberg in Stavros
Kreta - in einer Taverne in Stavros
Kreta - in einer Taverne in Stavros
Kreta - Stavros - überall Sorbas
Kreta - Stavros - überall Sorbas

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